Bundesverfassungsgericht: keine Pflicht, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage noch einmal an das Jobcenter zu wenden

Helge Hildebrandt weist unter sozialberatung-kiel.de auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 08. Februar 2023, 1 BvR 311/22 hin.

Aus der PM des Gerichts: “Ist die Untätigkeitsklage – wie hier – aufgrund Fristablaufs und mangels zureichenden Grundes für die Verspätung zulässig und begründet, ist zwar nicht ausgeschlossen, dass das Gericht in pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens aus Gründen der Billigkeit gleichwohl eine Kostenerstattung ablehnt. Hier hat das Sozialgericht das ihm eingeräumte Ermessen mit der Ablehnung der Kostenerstattung jedoch in nicht mehr nachvollziehbarer Weise gehandhabt. Es hat den seine Ermessensausübung leitenden Grundsatz, ein anwaltlich vertretener Leistungsempfänger sei grundsätzlich verpflichtet, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage nochmals an den Leistungsträger zu wenden und deutlich zu machen, dass eine Entscheidung über einen Antrag oder Rechtsbehelf noch ausstehe und die Behörde bei weiterem Ausbleiben einer Entscheidung mit einer Untätigkeitsklage rechnen müsse, nicht nachvollziehbar aus dem geltenden Recht abgeleitet.

Eine allgemeine Pflicht, die Behörde nach Ablauf der gesetzlichen Wartefrist zunächst auf die ausstehende Entscheidung über den Antrag oder Widerspruch aufmerksam zu machen, die Klageerhebung anzukündigen und nachzufragen, ob sie bald entscheide, findet keine Stütze im Gesetz und kann im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung auch auf keinen der Begründungsansätze des Sozialgerichts gestützt werden. Eine Pflicht, vor der Erhebung einer Untätigkeitsklage den Sachstand zu erfragen, besteht nicht generell, sondern nur unter besonderen Umständen des Einzelfalls.”

FragDenStaat: Wir möchten Jobcenter-Schulungsunterlagen zu einer verfassungswidrigen Praxis öffentlich machen

FragDenStaat: “Wer in Deutschland Arbeitslosengeld II („Hartz-4”) bezieht, muss vieles beachten. Empfänger:innen müssen sich regelmäßig persönlich beim Jobcenter melden, Reisen vorab genehmigen lassen und eine neue Anschrift unverzüglich mitteilen. Werden diese sogenannten Mitwirkungspflichten nicht erfüllt, kann das Jobcenter die Leistungsbezüge um bis zu 30 Prozent kürzen – bei wiederholten Verstößen auch mehrfach. 

Wir haben gemeinsam mit einem FragDenStaat-Nutzer auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) bei der Bundesagentur für Arbeit Unterlagen angefordert, die einen Einblick liefern können, nach welchen Vorgaben Sachbearbeiter:innen in den Jobcentern derartige Sanktionen verhängen. Doch die Bundesagentur weigert sich, für mehr Transparenz zu sorgen – obwohl die umstrittenen Sanktionen zwischenzeitlich sogar für verfassungswidrig erklärt wurden. Deshalb klagen wir jetzt auf Herausgabe der Dokumente.”

Quelle und mehr: FragDenStaat

Neue einführende Literatur zur Schuldnerberatung

Die Koordinierungsstelle SCHULDNERBERATUNG in Schleswig-Holstein weist auf zwei neue Werke hin, die in die Schuldnerberatung einführen:

Gesetz zur Stärkung der Aufsicht bei Rechtsdienstleistungen im Bundesgesetzblatt verkündet

Im Bundesgesetzblatt wurde gestern (BGBl. 2023 I Nr. 64) das “Gesetz zur Stärkung der Aufsicht bei Rechtsdienstleistungen und zur Änderung weiterer Vorschriften” verkündet.

Siehe dazu die Meldungen unter www.soziale-schuldnerberatung-hamburg.de/?s=Rechtsdienstleistungen+gesetz+stärkung und www.bundestag.de/services/suche?suchbegriff=rechtsdienstleistungen+stärkung

Der zentrale Artikel 1 tritt am 1.1.2025 in Kraft.

EuGH-Generalanwalt: Die automatisierte Erstellung eines Wahrscheinlichkeitswerts über die Fähigkeit einer Person, einen Kredit zu bedienen, ist ein Profiling im Sinne der DSGVO

Um es voran zu stellen: diverse Medien berichten prägnanter, nämlich

Die Pressemitteilung des EuGH formuliert es juristischer:

“Generalanwalt Pikamäe: Die automatisierte Erstellung eines Wahrscheinlichkeitswerts über die Fähigkeit einer Person, einen Kredit zu bedienen, ist ein Profiling im Sinne der DSGVO

Die Rechtssache C-634/21 betrifft einen Rechtsstreit zwischen einem Bürger und dem Land Hessen, vertreten durch den Hessischen Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (im Folgenden: HBDI), hinsichtlich des Schutzes personenbezogener Daten. Im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit, die darin besteht, ihre Kunden mit Auskünften über die Kreditwürdigkeit Dritter zu versorgen, lieferte die SCHUFA Holding AG einem Kreditinstitut einen Score-Wert in Bezug auf diesen Bürger. Dieser Score-Wert diente als Grundlage für die Verweigerung des von diesem Bürger beantragten Kredits. Der Bürger forderte daraufhin die SCHUFA auf, die darauf bezogene Eintragung zu löschen und ihm Zugang zu den entsprechenden Daten zu gewähren. Die SCHUFA teilte ihm jedoch nur den entsprechenden Score-Wert und in allgemeiner Form die der Methode zur Berechnung des Score-Wertes zugrunde liegenden Grundsätze mit. Sie erteilte ihm aber keine Auskunft darüber, welche konkreten Informationen in diese Berechnung eingeflossen waren und welche Bedeutung ihnen in diesem Zusammenhang beigemessen wurde und begründete dies damit, dass die Berechnungsmethode dem Geschäftsgeheimnis unterliege. (…)

OLG Zweibrücken zu Ansprüchen von Straftatverletzten und Insolvenz des Täters

Hier der Hinweis auf OLG Zweibrücken, 02.11.2022 – 1 Ws 77/22. Leitsätze:

1. Wird vor Abschluss des Entschädigungsverfahrens die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Einziehungsadressaten beschlossen, können die Antragsteller, die die Auskehrung des Verwertungserlöses begehren, gemäß § 459h Abs. 2 Satz 2, § 111i StPO Entschädigung ausschließlich im Insolvenzverfahren erlangen.

2. Die Frage, ob den Antragstellern wegen eines gegen den Einziehungsadressaten erwirkten Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses ein Absonderungsrecht gemäß § 50 InsO zusteht, ist eine originär insolvenzrechtliche und daher nicht von den Strafgerichten zu klären.

AG SBV zu Pandemie, Energiepreisexplosion und Ukraine-Krieg: Menschen wachsen zunehmend Schulden über den Kopf

65 Prozent der Schuldnerberatungsstellen verzeichnen im Vergleich zum Jahresanfang 2022 steigende Nachfrage nach Beratung und Unterstützung

Die stark gestiegenen Verbraucherpreise  machen sich nicht nur im schmaleren Geldbeutel der Menschen in Deutschland bemerkbar. Die hohe Inflation führt auch zu einem deutlichen Anstieg des Bedarfs nach Schuldnerberatung. Im Vergleich zum Jahresbeginn 2022 berichten 65 Prozent der gemeinnützigen Beratungsstellen in einer Umfrage von mehr Anfragen. Die Beratungsstellen müssen verstärkt bei Energie- und Mietschulden, bei der Pfändung von Staatshilfen oder bei der Budgetberatung unterstützen.

Für die Umfrage hat die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) etwa 1.400 Beratungsstellen zur Nachfrage-Entwicklung sowie zum Profil und den Anliegen der Klientinnen und Klienten befragt. In der AG SBV sind die Anbieter der sozialen Schuldnerberatung organisiert. Wie schon in den beiden vorherigen Umfragen stieg die Nachfrage nach Beratung weiter deutlich an. In 16 Prozent der Beratungsstellen war die Nachfrage um mehr als 30 Prozent höher als noch zehn Monate zuvor.

Wartelisten werden länger

„Die wirtschaftliche Not vieler Menschen und damit der Bedarf nach Unterstützung und Beratung wachsen kontinuierlich. Die Pandemie hatte bereits diesen Effekt, nun sind es die steigenden Preise, die die Haushalte in finanzielle Schwierigkeiten treiben“, erklärt Roman Schlag, Referent für Schuldnerberatung für die Caritas in Aachen und Sprecher der AG SBV. „Klar ist aber: Die explodierende Nachfrage bringt unsere Beratungsstellen ans Limit. Die Wartelisten für Termine werden immer länger und warten ist bei Geldproblemen nie eine gute Sache.“

Armut deutlich größer als angenommen: Paritätischer legt überarbeitete Neuauflage seines Armutsberichts 2022 vor

Nicht 16,6 Prozent, sondern 16,9 Prozent betrug die Armutsquote in Deutschland im Jahr 2021. Der Paritätische korrigiert damit seinen im letzten Juni veröffentlichten Armutsbericht. Von Armut betroffen waren damit nicht 13,8 Millionen Menschen, sondern 14,1 Millionen Menschen.

Unter Rückgriff auf Daten des Statistischen Bundesamtes legte der Paritätische Wohlfahrtsverband gestern eine aktualisierte Neuauflage seines Armutsberichts 2022 (Berichtsjahr 2021) vor. Notwendig geworden war die Überarbeitung, da das Bundesamt nach bereits im letzten Jahr veröffentlichten Erstergebnissen zu den Armutsquoten jetzt Endergebnisse für das Berichtsjahr 2021 mit zum Teil gravierenden Abweichungen vorlegte. So betrug die Kinderarmut nicht, wie zuerst berechnet, 20,8 Prozent, sondern sogar 21,3 Prozent. Die Armutsquote von Alleinerziehenden stieg auf 42,3 statt auf 41,6 Prozent.

BGH ändert seine Rechtsprechung zum Pfändungsfreibetrag nach § 850d ZPO: nur tatsächlich geleisteter Unterhalt zählt

Der Bundesgerichtshof hat seine Rechtsprechung zum § 850d ZPO geändert. Leitsatz des Beschlusses vom 18.01.2023 – VII ZB 35/20:

§ 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags die laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten des Schuldners gegenüber den dem Gläubiger vorgehenden oder gleichstehenden Unterhaltsberechtigten nur in dem Umfang zu berücksichtigen sind, in dem der Schuldner seine gesetzlichen Unterhaltspflichten den weiteren Unterhaltsberechtigten gegenüber erfüllt oder in dem er von den weiteren Unterhaltsberechtigten im Wege der Zwangsvollstreckung in Anspruch genommen wird (Aufgabe von BGH, Beschluss vom 5. August 2010 – VII ZB 101/09, MDR 2010, 1214).

Diese Entscheidung dürfte Pflichtlektüre sein. Eine erste Annäherung bietet vielleicht

An dieser Stelle das Augenmerk auf die Frage des bislang nicht oder weniger zahlenden Schuldners, wie er das denn zukünftig tun könne, wenn schon eine Pfändung vorliegt. Lösung des BGH (Rn. 20 der Entscheidung: