LSG Berlin-Brandenburg zur Abgrenzung Bedarfs- / Wohngemeinschaft und zu rückständigen Krankenversicherungsbeiträgen

Die Entscheidung Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 05.09.2024, L 32 AS 739/24 B ER ist lesenswert. Die ersten drei Leitsätze lauten:

  1. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen in einem Wechselverhältnis: Je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind, desto so geringer sind die Anforderungen an den Anforderungsgrund und umgekehrt.
  2. Nur ausnahmsweise können offene Geldforderungen aus der Vergangenheit zugleich wesentliche Nachteile bis zur Entscheidung in der Hauptsache und einen besonderen Eilbedarf begründen, insbesondere dann, wenn aus den fehlenden Geldmitteln aktuelle schwere, existenzbedrohende Nachteile für die Gegenwart oder den Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache drohen.
  3. Zur Aufklärung des Sachverhalts einer eheähnlichen Gemeinschaft oder eines Untermietverhältnisses ist die Nutzung sich aufdrängender Zeugenvernehmungen unverzichtbar.

Aus der Entscheidung:

Rn 26: Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II hat das BSG dahingehend konkretisiert, dass drei Merkmale kumulativ gegeben sein müssen. Bei den fraglichen Personen muss es

  • erstens sich um Partner handeln,
  • die zweitens in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben (objektive Voraussetzung),
  • und zwar so, dass drittens nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (subjektive Voraussetzung).

(…) Das BSG verlangt in ständiger Rechtsprechung, dass ein „Wirtschaften aus einem Topf“ als Voraussetzung für die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft und vorab vor der Klärung des subjektiven Umstandes, dass ein Wille, füreinander Verantwortung zu übernehmen und einzustehen, besteht, zu prüfen ist.

Bundesverfassungsgericht zur BAföG-Grundpauschale: keine subjektiven Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten

Das Bundesverfassungsgericht hat gestern eine Entscheidung, 23. September 2024 – 1 BvL 9/21, veröffentlicht, die in Teilen erschreckend zu lesen ist. So soll es „kein Recht auf staatliche Leistungen zur Beseitigung von den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für den Zugang zum Studium“ geben (Leitsatz 2).

Außerdem könne aus dem Sozialstaatsprinzip „bei der infolge der Begrenztheit der finanziellen Mittel notwendigen Priorisierung der vielfältigen Aufgaben (…) grundsätzlich keine subjektiven Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten hergeleitet werden.“ (Leitsatz 3a).

Es ging um die BAföG-Grundpauschalen für 10/2014 bis 2/2015 (vgl. Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit des BAföG-Bedarfssatzes für Studierende und RA Schaller).

Aus der Presseerklärung des Gerichts:

„Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass mittellose Hochschulzugangsberechtigte sich nicht auf einen subjektiven verfassungsrechtlichen Anspruch auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums berufen können, dem die Bemessung der Grundpauschale widersprechen könnte. Aus dem objektiv-rechtlichen sozialstaatlichen Auftrag zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen folgt derzeit keine spezifisch auf die Hochschulausbildung bezogene Handlungspflicht des Staates.

OLG Frankfurt: Pauschale Gebühr für Ersatz-SIM-Karte ist unzulässig

Mobilfunkanbieter dürfen nicht uneingeschränkt eine Gebühr für die Ausstellung einer Ersatz-SIM-Karte berechnen. Das hat das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main nach einer Klage des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) gegen die Drillisch Online GmbH entschieden, die unter anderem die Marke simplytel betreibt. Das Unternehmen hatte pauschal ein Entgelt für eine Ersatz-SIM-Karte verlangt.

OLG Frankfurt am Main, 18.07.2024, Az. 1 UKl 2/24 (nicht rechtskräftig, wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Rechtsstreits hat das OLG die Revision beim Bundesgerichtshof zugelassen)

Quelle und mehr: vzbv

LSG Hamburg zum Ersatz für wegen Schädlingsbefall unbrauchbares Sofa

Helge Hildebrandt weist unter sozialberatung-kiel.de auf LSG Hamburg, Urteil vom 5. April 2024, L 4 AS 153/23 D hin und ordnet es ein. Aus der Entscheidung:

„Rechtsgrundlage des Anspruchs ist § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGB II. Danach werden Leistungen für Bedarfe für Wohnungserstausstattung gesondert erbracht. Voraussetzung für einen Anspruch ist dabei nicht, dass der Hilfebedürftige eine komplette Ausstattung benötigt; auch einzelne Gegenstände können als „Leistungen für Erstausstattung für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten“ beansprucht werden (vgl. BSG, Urteil vom 19.9.2008 – B 14 AS 64/07 R).

Zwar geht es vorliegend nicht um die erstmalige Anschaffung eines Sofas (denn ein solches war ja in der Wohnung der Kläger vorhanden gewesen), dennoch handelt es sich – was zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig ist – um einen Fall der Erstausstattung und nicht um eine Ersatzbeschaffung, deren Kosten aus dem Regelbedarf zu tragen wären.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, kann eine „Wohnungserstausstattung“ auch bei der Notwendigkeit einer erneuten Beschaffung von bereits vorhanden gewesenen Einrichtungsgegenständen in Betracht kommen (vgl. BSG, Urteil vom 6. August 2014 – B 4 AS 57/13 R, Rn. 15). Zur Abgrenzung vom Ersatzbedarf ist Voraussetzung dafür allerdings, dass der konkrete Bedarf durch 1. außergewöhnliche Umstände bzw. ein besonderes Ereignis entstanden ist, 2. ein „spezieller Bedarf“ vorliegt und 3. ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den außergewöhnlichen Umständen bzw. dem besonderen Ereignis und dem Bedarf gegeben ist (BSG, a.a.O., Rn. 17 m.w.N.).

BGH zur Nachtragsverteilung und Massezugehörigkeit des Steuererstattungsanspruchs

Hier der Hinweis auf BGH, Beschluss vom 26. September 2024 – IX ZB 5/24, deren Leitsätze lauten:

  • Die Erteilung der Restschuldbefreiung steht einer Nachtragsverteilung nicht entgegen, wenn diese einen Gegenstand der Masse betrifft.
  • Die Beurteilung der Massezugehörigkeit des Steuererstattungsanspruchs ist unabhängig von der Berechnung des pfändbaren Betrags des Arbeitseinkommens.

Aus der Entscheidung:

„Eine Nachtragsverteilung hat grundsätzlich auch noch nach Erteilung der Restschuldbefreiung zu erfolgen, falls unbekannte Vermögensgegenstände des Schuldners aufgefunden werden, wie der Senat bereits entschieden hat (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2008 – IX ZB 172/07, NZI 2008, 560 Rn. 9). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Es trifft nicht zu, dass eine Nachtragsverteilung nach Erteilung der Restschuldbefreiung keinen Sinn mehr mache, weil die Insolvenzgläubiger mit ihren Forderungen endgültig ausgeschlossen seien. (…)

AG Köln: auch nach Insolvenzeröffnung kann Girokonto in ein P-Konto umgewandelt werden

Hier der Hinweis auf Amtsgericht Köln, 04.05.2023, 126 C 179/22. Demnach kann auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein normales Girokonto in ein P-Konto umgewandelt werden, wobei allerdings eine Monatsfrist gilt. Aus der Entscheidung:

„Die Frage, ob ein Insolvenzschuldner die Umwandlung seines Girokontos in ein Pfändungsschutzkonto in dem Zeitfenster des § 899 Abs. 1 S. 2 ZPO nach Insolvenzeröffnung verlangen kann, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung soweit ersichtlich noch nicht entschieden worden (noch ausdrücklich offen gelassen in BGH, Beschluss vom 13.02.2014 – IX ZB 91/12). In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird diese Frage vereinzelt aufgegriffen und überwiegend bejaht (Quellen). Das erkennende Gericht schließt sich diesen Stimmen in der Literatur an.

Dabei ist zuzugeben, dass eine ausdrückliche Regelung für den Fall der Insolvenz fehlt. Ebenfalls weist der Kläger im Ausgangspunkt zurecht darauf hin, dass mit Insolvenzeröffnung der zwischen der Schuldnerin und der Beklagten abgeschlossene Girovertrag grundsätzlich gemäß den Regelungen der §§ 115, 116 InsO erlischt. Somit würde es – diesen Ausführungen folgend – an einem Girokonto fehlen, welches sodann gemäß schuldnerschützenden Vorschriften umgewandelt werden könnte. Eine unmittelbare Anwendung von § 850k ZPO scheidet daher aus, da kein Zahlungskonto existiert, welches umgewandelt werden kann.

Es existiert indes kein Grund, dem Schuldner in einem Insolvenzverfahren den Schutz des § 850k ZPO zu versagen, wobei er im Falle der Einzelzwangsvollstreckung in den Genuss eben dieser Regelung kommt (in diese Richtung auch AG Ingolstadt, Beschluss vom 13.06.2012 – 4 IK 123/12). Dabei hat der Gesetzgeber auch durch die Regelung des § 36 Abs. 1 S. 2 InsO ausdrücklich klargestellt, dass schuldnerschützende Reglungen der Einzelzwangsvollstreckung zugunsten natürlicher Personen auch im Rahmen des Insolvenzverfahrens zu berücksichtigen sind und ein Schuldner vor einer „Kahlpfändung“ geschützt sein muss. Grundsätzlich ist es nicht das Ziel des Insolvenzverfahrens, eine über die Einzelzwangsvollstreckung hinausgehende Pfändungsmöglichkeit zu eröffnen.“

Bundesverfassunsgericht zu Inkassokosten bei bestrittener Forderung

Frank Lackmann [der am 6.11.2024 ein Online-Seminar zur aktuellen Rechtsprechung hält] und Hans-Peter Ehlen haben eine beachtenswerte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erstritten, 18.7.2024, 1 BvR 1314/23. Die Leitsätze (von Matthias Butenob zusammengestellt) lauten:

  1. Dass grundsätzlich eine Schadensminderungspflicht besteht, aufgrund derer Inkassokosten im Fall eines erkennbar zahlungsunwilligen Schuldners nicht als Schadensersatz erstattungsfähig sind, ist anerkannt (Rz. 22).
  2. Wenn ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, ist das Gericht verpflichtet, die vorgebrachten Argumente zu erwägen. Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde (Rz. 21).

Was war geschehen?

Die Beklage (= angebliche Schuldnerin) sagte einen in einer Fußpflegepraxis vereinbarten Behandlungstermin am gleichen Morgen wegen gefährlichen Unwetters telefonisch ab. Die Praxis war damit nicht einverstanden und berief sich auf ihre AGBs („Kurzfristig abgesagte Termine werden wir, egal warum der Termin abgesagt wurde, wie z.B. Krank, Arzttermin, Streik der öffentlichen Verkehrsmittel oder Auto sprang nicht an, mit einer Gebühr von 50% der eingeplanten Zeit zum Satz eine Minute/ ein Euro berechnen.“)

Die Beklagte bestritt trotzdem weiterhin die Forderung mit Verweis auf höhere Gewalt (Unwetter!). So verklagte die Praxis die Schuldnerin zur Zahlung des Honorars sowie – und hierum geht es beim Beschluss des BVerfGs – von Inkassokosten. Auch vor Gericht bestritt die Beklagte die Forderung und machte zu den Inkassokosten darüber hinaus geltend, dass die Praxis gegen ihre Schadensminderungspflicht verstoßen habe, in dem sie ein Inkasso eingeschaltet habe, obwohl die Forderung bestritten sei. Das Amtsgericht verurteilte die Beklagte ohne auf diese Argumente einzugehen.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:

Unzulässige Richtervorlage zu den Pfändungsfreigrenzen

Hier der Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2024, 1 BvL 4/24. Daraus:

„In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob die Regelung von Pfändungsfreigrenzen nach den §§ 850c und f der Zivilprozessordnung (ZPO) im Hinblick auf Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) verfassungsgemäß ist – Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Aue-Bad Schlema vom 28. März 2024 – 2 M 2596/20 – hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (…) am 20. Juni 2024 einstimmig beschlossen: Die Vorlage ist unzulässig.  (…)

Im Ausgangsverfahren geht es um die denkbare Erhöhung des unpfändbaren Betrags des Arbeitseinkommens wegen im Haushalt lebender Kinder, für die keine gesetzliche Unterhaltspflicht besteht. Im Haushalt des Schuldners leben, neben eigenen Kindern des Schuldners und dessen Ehefrau, deren drei Kinder, für die er nicht unterhaltspflichtig ist. (…)

Es ist insbesondere unklar, warum das Amtsgericht der Meinung ist, im Haushalt lebende Stiefkinder müssten für den Pfändungsfreibetrag wie eigene Kinder berücksichtigt werden, obwohl für sie gerade keine gesetzliche Unterhaltspflicht des Schuldners besteht, dafür aber in aller Regel eine Unterhaltspflicht Dritter, nämlich der (leiblichen) Eltern, gegeben ist.“

Zur Verfassungsmäßigkeit des BAföG-Bedarfssatzes für Studierende

Das Bundesverwaltungsgericht hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Vereinbarkeit des BAföG-Bedarfssatzes mit dem Grundgesetz vorgelegt, BVerwG 5 C 11.18 – Beschluss vom 20. Mai 2021, siehe Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit des BAföG-Bedarfssatzes für Studierende.

Joachim Schaller, der die Vorlage erstritten hat, hat nun seine Webseite zu diesem Verfahren aktualisiert. Siehe www.recht-auf-studienplatz.de/bverwg-5-C-11-18.html#update21082024.

Das Update und die dort genannten Links sind sehr lesenswert!

Zu den Anforderungen der Anmeldung einer Forderung aus vorsätzlich unerlaubter Handlung

Hier der Hinweis auf zwei Entscheidungen zur Anmeldung einer sog. Deliktsforderung im Insolvenzverfahren.

1) AG Ludwigshafen, 12.12.2023 – 3 e IN 361/22 Lu – Leitsätze:

1. Die Anmeldung einer Forderung aus vorsätzlich unerlaubter Handlung setzt nicht voraus, dass der Schuldner einen zulässigen Restschuldbefreiungsantrag gestellt hat.

2. Im Rahmen der Forderungsprüfung hat der funktional zuständige Rechtspfleger auch zu prüfen, ob eine Forderungsanmeldung hinsichtlich des behaupteten Deliktscharakters formell ordnungsgemäß erfolgt ist.

2) AG Düsseldorf, 17.05.2024 – 513 IK 167/23 – Leitsatz 1

Das plötzliche Erkenntnis einer Gläubigerin bei einem vor über 15 Jahren titulierten Zahungsanspruchs handele es sich (auch) um einen vorsatzdeliktischen Anspruch führt –ohne dass dies gläubigerseitig konkretisiert wird -, zu einer insoweit rechtsmissbräuchlichen Forderungsanmeldung.

3) siehe auch schon BGH zur Anmeldung einer Forderung aus vorsätzlich begangener Unterhaltspflichtverletzung sowie AG Norderstedt: Anmeldung einer Deliktsforderung muss Mindestanforderungen erfüllen